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14 MEINUNG&DEBATTE Montag, 26. Mai 2014 ^ Nr. 120
Neuö Zürcör Zäitung
OUT OF AFRICA
Berge
versetzen
Ruedi Lüthy
Die vergangene Woche war für mich etwas ganz Besonderes:
Eine unserer Patientinnen durfte auf Einladung der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) für ein paar Tage in die
Schweiz reisen. Loyce, eine 22-jährige Frau, konnte in Genf
anlässlich derjährlichen WHO-Versammlung über ihre Erfah-
rungen als HIV-positives Mädchen und junge Frau berichten.
Loyce wurde im Jahr 2005 schwer krank in unsere Klinik
überwiesen und ist seither bei uns in Behandlung. Ihre
Lebensgeschichte ist ebenso typisch wie traurig für ein Kind,
das bei der Geburt oder während des Stillens mit HIV ange-
steckt wird. Sie hatte Glück, dass sie die ersten zwei Jahre
überlebte, denn das gelingt nur jedem zweiten HIV-positiven
Baby. Als sie fünf Jahre alt war, starb ihr Vater; fünf Jahre spä-
ter verlor sie ihre Mutter und kurz darauf ihren Bruder. Von
da an wurde das damals zehnjährige Mädchen von einem Ort
zum anderen geschoben. Sie fand bei Verwandten und Be-
kannten einen Unterschlupf auf Zeit, ohne je irgendwo will-
kommen zu sein. Mit zwölf Jahren wurde auch bei ihr die HIV-
Infektion diagnostiziert. So kam sie zu uns in die Newlands
Clinic und begann mit der antiretroviralen Therapie.
Ihr Schicksal teilt sie mit den meisten unserer jungen
Patienten: Drei von vier Jugendlichen haben Vater, Mutter
oder sogar beide verloren. In vielen afrikanischen Völkern, so
auch bei den hiesigen Shona, ist die mündliche Überlieferung
der Traditionen ausserordentlich wichtig. Im täglichen Kampf
ums Überleben bleibt aber dafür keine Zeit, und es fühlt sich
leider auch niemand wirklich verantwortlich für diese unzäh-
ligen Waisen. Für einen regelmässigen Schulbesuch fehlt oft
das Schulgeld, oder wiederkehrende Erkrankungen führen zu
immer längeren Absenzen. Mit der Pubertät beginnen dann
weitere Schwierigkeiten, nicht zuletzt die Auseinander-
setzung mit dem anderen Geschlecht, welche durch das
Stigma der HIV-Infektion zusätzlich erschwert wird. Dazu
kommt die Aussichtslosigkeit, eine berufliche Ausbildung zu
absolvieren – alle diese Faktoren tragen zur Entwicklung von
Depressionen bei, die wir bei mehr als der Hälfte der Jugend-
lichen feststellen. Unsere Psychologin, die sich um diese vul-
nerable Patientengruppe kümmert, erlebtsehr häufig, dass die
Teenager suizidgefährdet sind. Es ist deshalb auch nicht über-
raschend, dass bei rund 20 Prozent die Medikamente wegen
mangelhafter Therapietreue versagen.
Der Bedarf nach Angeboten, welche die Jugendlichen in
dieser schweren Lebensphase unterstützen, ist schier unend-
lich in einem Land mit mehr als einer Million Aids-Waisen
und einer Wirtschaft, die am Boden liegt. Im Jahr 2011 haben
wir deshalb zusammen mit unserer Partnerorganisation Afric-
aid ein Berufsausbildungsprogramm für HIV-positive Jugend-
liche ins Leben gerufen. In den ersten zwei Jahren konnten 60
Jugendliche eine praktische Ausbildung absolvieren und Be-
rufserfahrungen sammeln.
Nun können sich die meisten mit einerselbständigen Tätig-
keit über Wasser halten. Sie verkaufen selbst hergestellte
Seife oder Erdnussbutter, nähen Kleider, malen oder schrei-
nern. Ihr Verdienst ist bescheiden, doch die Tatsache, dass sie
etwas gelernt und sich ein Ziel gesetzt haben, hat ihr Leben
verändert. «Endlich habe ich das Gefühl, auch jemand zu
sein», ist eine viel gehörte Aussage.
Auch Loyce hat bei Africaid Unterstützung gefunden, und
heute arbeitet sie selber für die Organisation als Beraterin
und Trainerin und hilft so anderen Kindern und Jugendlichen
mit HIV ihr Schicksal besser zu bewältigen.
Die schwierigen Lebensverhältnisse dieser Kinder und
Jugendlichen sind für mich schwer zu ertragen, und manchmal
zweifle ich, ob unsere tägliche Arbeit wirklich etwas verän-
dern kann. Wenn ich dann aber sehe, wie aus einem todkran-
ken, abgemagerten Mädchen eine junge engagierte Frau ge-
worden ist, die den Mut hat, an einer internationalen WHO-
Konferenz über die Bedürfnisse ihrer verwaisten Generation
zu sprechen, glaube ich, dass sich am Ende doch Berge verset-
zen lassen.
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Ruedi Lüthy lebt seit 10 Jahren in Harare, der Hauptstadt Simbabwes, wo er die
Newlands Clinic für mittellose HIV-Patienten führt.
ZUSCHRIFTEN VON LESERINNEN UND LESERN
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NADIA SHIRA COHEN
FOTO-TABLEAU: HIMMLISCHE UND IRDISCHE BRÄUTE 1/4
Den Schleier zu nehmen, hiess für die Nonnen des Klosters Santa Rita im umbrischen Cascia lange, den Freuden der Welt zu
entsagen. Aber weil öfters junge Ehefrauen der Heiligen nach der Hochzeit ihr Brautkleid weihten, gelangten auch zartere,
modische Gewebe in die Hände der Klosterfrauen – und diese fassten den weisen Entschluss, die kostbaren Kleider weniger
bemittelten Bräuten zur Verfügung zu stellen. Nadia Shira Cohen hat eine dieser Glücklichen bei der Anprobe fotografiert.
Mitteilung des Verlags
Annahmeschluss Anzeigen für Auffahrt
Ausgabe Annahmeschluss
Freitag, 30. Mai Dienstag, 27. Mai 12.00 Uhr
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Samstag, 31. Mai Mittwoch, 28. Mai 9.00 Uhr
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Sonntag, 1. Juni* Mittwoch, 28. Mai 9.00 Uhr
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Montag, 2. Juni Mittwoch, 28. Mai 9.00 Uhr
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* «NZZ am Sonntag»
Die Ausgabe von Donnerstag, 29. Mai, fällt aus.
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Todesanzeigen
Am Vortag der Publikation zwischen 14 und 18 Uhr
beim Empfang, Eingang Falkenstrasse 11, abgeben
oder per Fax 044 258 16 77 oder per E-Mail:
anzeigenxnzzmedia.ch.
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Vegane Ernährung ist
auch Umweltschutz
Dass die WHO ausgerechnet den
Fleisch-, Milch- und Eierkonsum nicht
als Hauptfaktor der ungesunden Ernäh-
rung erwähnt, ist erstaunlich (NZZ
20. 5. 14). Es gibtso viele Studien, die die
Schädlichkeit belegen, aus wirtschaft-
lichen Gründen aber möglichst ver-
schwiegen werden. Daneben wäre die
vegane Ernährung auch Hungerbe-
kämpfung, Umweltschutz und vor allem
Tierschutz.
Dr. med. Renato Werndli, Eichberg
AN UNSERE LESERINNEN
UND LESER
Wir danken allen Einsenderinnen und Einsendern von
Leserbriefen und bitten um Verständnis dafür, dass wir
über nicht veröffentlichte Beiträge keine Korrespondenz
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der Auswahl bevorzugt; die Redaktion behält sich vor,
Manuskripte zu kürzen. Jede Zuschrift an die Redaktion
Leserbriefe muss mit der vollständigen Postadresse
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NZZ-Postfach
8021 Zürich, Fax 044 252 13 29
E-Mail: leserbriefexnzz.ch
«Ein Teil der Welt isst sich im wahrsten
Sinne des Wortes zu Tode», so die War-
nung der Generaldirektorin der Welt-
gesundheitsorganisation (WHO), Mar-
garet Chan, am Montag bei der Eröff-
nung der 67. Weltgesundheitsversamm-
lung in Genf. Erwähnt wurden aber nur
die gesundheitsschädigende Fertignah-
rung und der hohe Zuckerkonsum (NZZ
20. 5. 14). Nicht erwähnt wurden der un-
gesunde hohe Fleischkonsum sowie der
masslose Konsum von Eiern und Milch-
produkten, die ebenfalls der Gesundheit
abträglich sind. Während in vielen Län-
dern unzählige Menschen Hunger leiden
(hier ist zu bedenken, dass 90 Prozent
der weltweiten Sojaernte an Vieh verfüt-
tert wird!), stellen anderswo Krankhei-
ten, wie zum Beispiel Krebs und Fett-
sucht (die auch bei Kindern immer mehr
zunimmt), grosse Probleme dar, die auch
durch den Konsum von tierischen Pro-
dukten gefördert oder gar verursacht
werden. Wir kämen auf diesem Planeten
endlich einen Schritt weiter, wenn die
vegane Ernährung ernsthaft gefördert
werden würde, anstatt Milliarden von
Tieren in der grausamen Massentierhal-
tung zu züchten und brutal abzuschlach-
ten, nur damit die Menschen sich an
ihnen krank oder gar zu Tode essen kön-
nen. Das käme nicht nur den Tieren,son-
dern auch den Hungernden, der Umwelt
und der eigenen Gesundheit zugute.
Claudia Zeier, Zürich
Verein gegen Tierfabriken Schweiz
Überflüssige
Umfragen
Der ehemalige Vizekanzler Oswald
Sigg schreibt, in der direkten Demokra-
tie seien private Abstimmungsumfra-
gen mehr als überflüssig (NZZ 8. 5. 14).
Dem können selbst politisch interes-
sierte Bürgerinnen und Bürger getrost
zustimmen. Mehr noch, auch Wahl-
umfragen sind überflüssig – denn Um-
fragen widerspiegeln im heutigen politi-
schen Umfeld vorwiegend die Wirkung
der medialen und oft manipulativen Be-
einflussung der Stimmbürger. Die aktu-
elle Debatte zur Beschaffung eines
neuen Kampfflugzeuges ist ein Beispiel
dafür. Der frei denkende und entschei-
dende Bürger wird durch Umfrage-
werte kaum bewegt, sein Stimm- und
Wahlverhalten zu ändern. Wenn sich
private Institutionen und Unternehmen
diesen Umfrageluxus leisten wollen, ist
das ihre Freiheit. Wenn dagegen solche
Umfragen durch staatlich finanzierte
Institutionen, wie Radio und Fern-
sehen, gestartet werden, ist dies demo-
kratisch und verfassungsmässig be-
denklich. Bedenklich ist auch, dass die-
se Unsitte durch eine staatliche
Zwangsabgabe (Radio- und Fernseh-
gebühren) mitfinanziert werden muss.
Es darf nicht sein, dass wir Staatsbürger
gezwungen werden, für demokratischen
und verfassungsrelevanten Unfug auch
noch zu bezahlen.
Jean Pierre Peternier, Worb
Konzeptloser Aargau
im Asylbereich
Es ist nicht so, dass die Aarburger Bevöl-
kerung gegen Asylsuchende ist. Sonst
hätte sie nicht das Soll von 18 Personen
mit 37 Menschen, die aufgenommen
wurden, übererfüllt. Sie ist nur gegen das
konzeptlose Vorgehen des Departe-
ments Gesundheit und Soziales von
Regierungsrätin Susanne Hochuli
(NZZ 12. 5. 14). Das Amt hat vor einiger
Zeit bestätigt, Aarburg habe seine
Pflicht voll erfüllt. Trotz dieser Zusiche-
rung sollen nun in einer Nacht-und-
Nebel-Aktion 90 Asylsuchende in einen
Wohnblock gepfercht werden, der dafür
nicht geeignet ist und anscheinend Bau-
und Sicherheitsmängel aufweist. Dass
der Gemeinderat baurechtlich dagegen
vorgeht, liegt darin begründet, dass die
Gemeinde haftet, wenn aus baulichem
Ungenügen Unfälle entstehen.
Aarburg hat bereits heute einen Aus-
länderanteil von 41,6 Prozent. Ausser-
dem ist die Gemeinde finanziell in einer
schlechten Lage, nicht zuletzt wegen des
hohen Ausländeranteils. Sie muss rund
6 Millionen Franken für Sozialausgaben
aufwenden, dies bei einem Gesamt-
budget von 27 Millionen Franken. Ande-
rerseits gibt es Gemeinden im Osten des
Aargaus, die ihre Aufnahmepflicht nicht
erfüllt haben und sich mit zu geringem
Entgelt loskaufen.
Klaus Müller, Aarburg
Wirklich geistig
beeinträchtigt?
Es freut mich sehr, dass die NZZ wieder-
um ihre Seiten öffnet für das Thema
Down-Syndrom / Trisomie 21 und fun-
diert über die Forschung auf diesem Ge-
biet berichtet (NZZ 14. 5. 14). Ein Kind
mit Trisomie 21 bringt gewiss in Bezug
auf Gesundheit und Lernverhalten seine
Herausforderungen mit sich. Tut das
nicht jedes Kind? Als betroffene Mutter
möchte ich hier auf den Begriff des
«geistig beeinträchtigten» Menschen
eingehen, der «nur unter speziellen Be-
dingungen die Anforderungen des täg-
lichen Lebens bewältigen kann».
Vom Standpunkt der heutigen Ge-
sellschaft aus gesehen, mag das so sein:
Hier werden (schulische, universitäre)
Intelligenz, Fachwissen, Arbeitsleistung
und Rendite am höchsten bewertet. In
diesem Licht betrachtet, erscheinen an-
dere Lebensentwürfe oft geprägt von
Hilflosigkeit, Abhängigkeit und man-
gelndem Können. Soziale und emotio-
nale Kompetenzen, «soft factors» und
andere Formen des Lernverhaltens spie-
len bei der Betrachtung eine untergeord-
nete Rolle.
Kinder mit Trisomie 21 haben im heu-
tigen schulischen Kontext oft Mühe, den
Stoff aufzunehmen. Heisst dies, dass sie
nicht lernfähig sind? Sind sie wirklich
geistig beeinträchtigt? Sind andere Lern-
strategien «beeinträchtigte» Lernstrate-
gien? Nein! Neue Studien, v. a. von Prof.
A. Zimpels der Universität Hamburg,
zeigen, dass Menschen mit Trisomie 21
ein anderes Lernverhalten haben. Be-
rücksichtigt man ihre Wahrnehmungs-
und Verarbeitungsstrategien und wer-
den sie dementsprechend gefördert, sind
sie oft zu verblüffenden Leistungen
fähig. Ihr manchmal etwas langsameres
Lernen machen sie darüber hinaus meist
durch ungeheuren Einsatzwillen, Ambi-
tion und viel, viel Freude wett. So wach-
sen sie später zu Erwachsenen heran, die
ihr Leben zum grossen Teil selbst meis-
tern können.
Tamara Pabst, Winterthur
Chefredaktion «aktuell 21», Insieme 21